Bonner Querschnitte 19/2021 Ausgabe 690
ZurückAnhörung des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages zur Menschenrechtslage in der Türkei
Schirrmacher: Ob Nordirak oder Nordsyrien, Armenien oder Aserbaidschan â die Türkei infiziert mit ihrem anti-menschenrechtlichen Kurs ein Land nach dem anderen
(Bonn, 03.09.2021) In einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe unter dem Vorsitz von Gyde Jensen (FDP) am Mittwoch, 23. Juni 2021, zeigten sich die geladenen Experten alarmiert über die ihrer gemeinsamen Auffassung nach zunehmende Unterdrückung von Opposition und Zivilgesellschaft in der Türkei. Dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan warfen sie vor, Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte systematisch auszuhöhlen. Das zeigten die Verurteilungen von Oppositionellen und Journalisten, das laufende Verbotsverfahren gegen die zweitgröÃte Oppositionspartei HDP oder der Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz vor Gewalt gegen Frauen.
Die Gewaltenteilung existiere in der Türkei nur noch auf dem Papier, die Gerichte seien nicht mehr unabhängig, so das einhellige Urteil der Experten. Von Deutschland und der Europäischen Union verlangten sie ein entschiedeneres Handeln.
âDramatischer Rückbau des Rechtsstaatesâ
Von einem âdramatischen Rückbauâ des Rechtsstaates sprach etwa Dr. Günter Seufert, Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Dieser Rückbau spiele sich dem institutionellen Hintergrund des Ãbergangs zum Präsidialsystem ab und habe âverheerende Auswirkungenâ auf die Achtung der Grund- und Menschenrechte, so der Sachverständige.
Die Instrumentalisierung der Justiz durch die Regierung bedrohe aber nicht nur die Rechte des Einzelnen, sie verenge auch den Raum für âlegales politisches Handelnâ, beschneide die Rechte der Opposition und verschlieÃe âKanäle für effektive politische Partizipationâ. Das zeige das Verbotsverfahren gegen die pro-kurdische Oppositionspartei HDP exemplarisch.
âRückschläge bei Frauenrechtenâ
Selmin Ãaliskan von den Open Society Foundations in Berlin beklagte insbesondere die Rückschläge im Kampf um Frauenrechte. In den vergangenen Jahren habe sich die Zahl der Frauenmorde verdoppelt, ein Viertel der Mädchen erführen sexualisierte und körperliche Gewalt. Der Austritt aus der Istanbul-Konvention lasse eine weitere Verschlechterung der Lage befürchten, so die Sachverständige.
Frauenrechtsorganisationen würde ein âvölkerrechtlich verbrieftes Instrumentâ zum Schutz von Frauen vor Gewalt entzogen. Ãaliskan forderte mehr Unterstützung für die Frauenbewegung. Diese spiele eine âzentraleâ Rolle im Widerstand gegen Erdogans autoritären Kurs. Zudem müsse die EU Grundrechte und Rechtsstaat zur Bedingung für weitere Verhandlungen mit der Türkei machen, so die Sachverständige.
âFolter in Gefängnissen auf der Tagesordnungâ
Amke Dietert, Türkei-Expertin von Amnesty International Deutschland, warf der türkischen Regierung schwere Menschenrechtsverletzungen vor. Mit seinem kurz vor dem EU-Gipfel im März präsentierten âAktionsplan Menschenrechteâ gebe Erdogan nur vor, Demokratie und Rechtsstaat stärken zu wollen. Tatsächlich sei das Gegenteil der Fall, so Dietert. Ein Beispiel: die propagierte âNulltoleranzâ gegen Folter. Lokale Menschenrechtsorganisationen berichteten fast täglich über Fälle von Folter in Polizeistationen, Gefängnissen oder bei Festnahmen.
Deutliche Kritik an der Türkei-Politik der Bundesregierung übte der im deutschen Exil lebende Journalist Can Dündar: Seit 2016 befinde sich die Türkei in einem âAusnahmezustandâ. Der gescheiterte Staatstreich sei eine willkommene Einladung für Erdogan gewesen, über eine Verfassungsreform seine Macht auszubauen. Heute kontrolliere er Parlament, Justiz und Medien. Es sei eine âEnttäuschungâ, dass die EU und insbesondere Deutschland offenbar trotzdem bereit seien, âKompromisseâ zu schlieÃen. Das EU-Flüchtlingsabkommen nutze Erdogan erfolgreich als Druckmittel. Verletzungen der Menschenrechten würden dafür in Kauf genommen, monierte Dündar.
âSanktionen gegen Ankara prüfenâ
Auch die Autorin Laila Mirzo mahnte, die Weltgemeinschaft dürfe nicht länger wegsehen. Erdogan sei ein âIslamist und Nationalistâ, der von einem neuen Osmanischen Reich träume. Zu seinen Umbauplänen gehöre auch eine neue âzivileâ Verfassung, die er zum 100. Jubiläum der Republikgründung 2023 angekündigt habe, so Mirzo. Das Prinzip des Laizismus, die Trennung von Religion und Staat, werde dann wohl endgültig gestrichen, warnte sie.
Die âschrittweise Islamisierungâ bedrohe Frauen â aber auch Kinderrechte. Angesichts der Menschenrechtsverletzungen drängte sie, âSanktionen gegen Ankaraâ zu prüfen.
Warnung vor sich ausbreitenden religiösen Spannungen
Für ein Handeln plädierte auch Prof. Dr. Dr. Thomas Schirrmacher, Direktor des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit, angesichts der wachsenden religiösen und ethnischen Spannungen in der Region: Ob Nordirak oder Nordsyrien, Armenien oder Aserbaidschan â die Türkei âinfiziereâ mit ihrem Kurs ein Land nach dem anderen, sagte der Theologe. Aus den Konflikten versuche Erdogan âKapitalâ zu schlagen.
Deutschland müsse sich auf die Seite der demokratisch gesinnten Zivilbevölkerung stellen, forderte schlieÃlich die Journalistin Düzen Tekkal: âDas gelingt doch auch im Fall von Belarus, warum nicht für die Türkei?â Tekkal mahnte zur Wachsamkeit und drängte auf ein Verbot der âGrauen Wölfeâ in Deutschland. Von der âantisemitisch-völkisch-nationalistische Bewegungâ gehe auch hierzulande Gefahr für Erdogan-Kritiker aus. Das habe sie selbst durch Morddrohungen erfahren, berichtete die in Hannover geborene Jesidin. (sas/24.06.2021)
Quelle: Deutscher Bundestag
Downloads und Links:
- Foto 1 und Foto 3: Thomas Schirrmacher während seiner Ausführungen zur Türkei © BQ/Martin Warnecke
- Foto 2: Blick in die Runde des Menschenrechtsausschusses unter Coronabedingungen © BQ/Martin Warnecke
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- Quelle des Textes: Deutscher Bundestag: Menschenrechtslage in der Türkei: https://www.bundestag.de/ausschuesse/a17_menschenrechte/anhoerungen/842388-842388