Bonner Querschnitte 6/2006 Ausgabe 21

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Wir müssen unbequemen Wahrheiten ins Gesicht schauen

Generalsekretär der Deutschen Evangelischen Allianz begrüßt neue Publikation zum Lebensrecht

(Bonn, 13. April 2006) – Der Generalsekretär der Deutschen Evangelischen Allianz, Hartmut Steeb, begrüßt ein neues Buch zum § 218, das von Bernward Büchner und Claudia Kaminiski für den Bundesverband Lebenrecht e.V. herausgegeben wurde. Die Publikation, die im Wesentlichen Beiträge aus einem Symposium des Verbandes wiedergibt, regt zur längst überfälligen Auseinandersetzung mit dem deutschen Beratungskonzept und seinen Auswirkungen an.

Die Reform des § 218 von 1995 sollte den Lebensschutz ungeborener Kinder verbessern. Nach zehn Jahren zeigt sich, dass das Ziel verfehlt worden ist. Die relative Abtreibungshäufigkeit nimmt seit Jahren zu. Das gesetzliche Beratungskonzept hat zu einem Verlust des Unrechtsbewusstseins geführt. Seine Praxis offenbart deutliche Mängel. Die Frage drängt sich auf, ob nicht der Glaube an den Schutzeffekt des Konzepts sich als kollektiver Selbstbetrug erweist.

Steeb: „Was brauchen wir in unserer Zeit nötiger, als unbequemen Wahrheiten ins Gesicht zu schauen? Wer bereit ist, die hohen Ziele der so genannten Abtreibungsreform der 90er Jahre mit der Wirklichkeit heute zu vergleichen, findet hier die notwendigen Informationen. Dann fehlt nur noch der Mut, das Scheitern dieser ‚Reform‘ zur Kenntnis zu nehmen und gemeinsam zu überlegen, wie denn nun wirklich Lebensschutz für ungeborene Kinder erreicht werden kann.“  Steeb weiter:  „Justiz, Regierung und Parlament sind auf das Grundgesetz vereidigt. Sie dürfen es sich nicht mehr länger leisten, dennoch die Augen zu verschließen, wenn höchstrichterliche Rechtsprechung ebenso ignoriert wird, wie das Recht der Ungeborenen selbst. Hier ist die Analyse. Sie ist sonnenklar. Jetzt ist das Handeln dran. Wir brauchen Mut, endlich den erwiesenermaßen falschen Weg zu verlassen.“

 

Bernward Büchner u. Claudia Kaminski (Hg.). Lebensschutz oder kollektiver Selbstbetrug?: 10 Jahre Neuregelung des § 218 (1995–2005), Bonn: Verlag für Kultur und Wissenschaft, 2006. ISBN 3-938116-017-X, 9,80 €.

 

Rezension zum Buch

Etwas ist schief gelaufen

Die Reform des § 218 von 1995 konnte den Schutz ungeborener Kinder nicht verbessern

Die Reform des § 218 von 1995 sollte den Lebensschutz ungeborener Kinder verbessern. Nach zehn Jahren zeigt sich, dass das Ziel verfehlt worden ist. Die relative Abtreibungshäufigkeit nimmt seit Jahren zu. Das gesetzliche Beratungskonzept hat zu einem Verlust des Unrechtsbewusstseins geführt. Seine Praxis offenbart deutliche Mängel. Die Frage drängt sich auf, ob nicht der Glaube an den Schutzeffekt des Konzepts sich als kollektiver Selbstbetrug erweist.

Richter Bernward Büchner, seit 2002 stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbandes Lebensrecht e.V., und die Ärztin Claudia Kaminski, seit 2001 Vorsitzende des Verbandes, haben ein Buch herausgegeben, das zur längst überfälligen Auseinandersetzung mit dem deutschen Beratungskonzept und seinen Auswirkungen anregen soll. Die Publikation, die im Wesentlichen Beiträge aus einem Symposium des Verbandes wiedergibt, behandelt die Problematik auf unterschiedlichen Ebenen.

Christian Hillgruber, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn, zieht in seinem verfassungsrechtlichen Beitrag eine kritische Bilanz des letzten Jahrzehnts. Die gesetzliche Ausgestaltung der Beratungsregelung und die staatliche Finanzierung beratener Schwangerschaftsabbrüche hätten angesichts des durch die Verfassung gebotenen Schutzes ungeborenen Lebens zu einer Deformation und Erosion des Rechtsbewusstseins geführt. Der ins Gesetz eingegangenen Formulierung, dass nämlich ein Schwangerschaftsabbruch „rechtswidrig, aber nicht strafbar“ sei, liege eine juristisch zwar nachvollziehbare, aber praktisch kaum umsetzbare Unterscheidung zugrunde. Wie solle der Normalbürger verstehen, „dass eine Handlung verboten ist, und der Staat, ein Rechtsstaat, sie dessen ungeachtet einfach geschehen lässt, ja mehr noch, sie zugleich als öffentlich geschuldete Dienstleistung betrachtet“? Hillgruber plädiert dafür, das Lebensrecht der Ungeborenen entschlossen zu verteidigen. Die lebensfeindliche Rechtspraxis dürfe nicht verniedlicht, sondern müsse offen ausgesprochen werden.

Auf einer ganz anderen Ebene behandelt die Ärztin und Psychotherapeutin Angelika Pokropp-Hippen das Thema. Die Traumatherapeutin behauptet anhand von Beispielen aus ihrer eigenen Praxis, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Post-Abortion-Syndrom als Erkrankung nach Abtreibungen und dem Krankheitsbild der postraumatischen Belastungsstörung gibt. Der Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD von Post-Traumatic-Stress-Disorder) stammt aus der therapeutischen Arbeit mit Vietnamveteranen. Im anglo-amerikanischen Raum wurden nach dem Vietnamkrieg zunehmend Fälle beschrieben, bei denen ehemalige Soldaten an unwillkürlich auftretenden Erinnerungsszenarien litten, die offensichtlich mit Traumatisierungen während der Kriegshandlungen zu tun hatten. Betroffene litten z. B. an Alpträumen, Amnesie, emotionaler Abstumpfung, Konzentrationsstörungen und Depressions- und Suizidgefahr. Heute dient PTSD auch zur Beschreibung von Fällen, die mit Folter, sexuellem Missbrauch und sozialer Diskriminierung in Verbindung stehen. Dr. Pokropp-Hippen versteht das Post-Abortion-Syndrom (PAS) als Sonderform der posttraumatischen Belastungsstörung. Jede Abtreibung sei ein Trauma. Auch wenn bisher zuverlässige Zahlen fehlten, könne davon ausgegangen werden, dass ca. 80 Prozent der Frauen nach einer Abtreibung seelisch und/oder körperlich traumatisiert sind und Symptome zeigen, für deren Beschreibung die PTSD geeignet sei. Frauen litten nach einem Schwangerschaftsabbruch oft an Depressionen, Angsterkrankungen, Beziehungsstörungen und Schuldkomplexen. Auch seien psychosomatische Erkrankungen mit Organmanifestationen beobachtbar. Dass das Post-Abortion-Syndrom in der Öffentlichkeit kaum Beachtung findet, läge an einer weitgehenden kollektiven Verdrängung in Wissenschaft und Politik. Es könne eben nicht sein, was nicht sein dürfe.

Manfred Spieker, seit 1983 Professor für Christliche Sozialwissenschaft am Institut für Katholische Theologie an der Universität Osnabrück, spricht in seinem Beitrag zur Lebensrechtsproblematik von einer Kultur des Todes. Eine Kultur des Todes möchte das Töten vom „Fluch des Verbrechens“ befreien. Seit 30 Jahren schleiche sich diese Kultur durch Deutschland, sie gebe vor, Leben zu schützen und Selbstbestimmung zu fördern, in Wirklichkeit aber sei sie angetreten, Menschenwürde zu relativieren und Ungeborene sowie Sterbende zu entsorgen. Sie bediene sich dabei – vergleichbar vielleicht mit dem Trojanischen Pferd – verschiedener Tarnkappen. Sogar die Statistik, gern als Garant für Objektivität gefeiert, wäre oft nichts anderes als eine Tarnkappe. Die Meldepflicht bei Schwangerschaftsabbrüchen werde beispielsweise derart missachtet, dass das Statistische Bundesamt jedes Jahr vor den eigenen Zahlen warnen müsse.

Spiekers zweiter Beitrag widmet sich den Spätabtreibungen. Frau Däubler-Gmelin, die ehemalige Justizministerin der rot-grünen Regierung, forderte im Jahre 1999 dazu auf, Spätabtreibungen zu unterbinden, wenn die Gesundheit der Mutter nicht gefährdet ist. Geändert hat sich an der abscheulichen Praxis jedoch nichts. Spieker vermutet sogar, dass die Spätabtreibungen seit Jahren zunehmen. Ein Rechtsstaat dürfe angesichts dieser bedrohlichen Entwicklung nicht kapitulieren, sondern müsse sich notwendigen Korrekturen stellen. Die positiven Entwicklungen in Polen, Portugal, Malta, Italien und in den USA in den vergangenen zehn Jahren zeigten, „dass die Rekonstruktion des Rechtsstaates möglich ist, wenn Gesetzgeber und Regierungen den Mut aufbringen, sich dem grauenvollen Geschehen wirklich zu stellen und den Legitimitätsbedingungen eines Rechtsstaats neue Geltung zu verschaffen“.

Martin Lohmann, lange Zeit Chefredakteur der „Rhein-Zeitung“, später Fernsehmoderator und heute freier Journalist, ist besorgt über eine schleichende  Bewusstseinsvernebelung. Die Medien förderten durch einen falschen Sprachgebrauch massenhaft falsches Bewusstsein. Man spräche z. B.  vom Abtreibungsrecht, obwohl ohne großen Rechercheaufwand zu ermitteln sei, dass es kein Recht auf Abtreibung gäbe. Medien und ihre Aufklärer hätten allen Grund, „gerade in Fragen des Lebensschutzes völlig tabufrei jede Angst vor Aufklärung mutig abzubauen – um echte Aufklärer im Sinne der Wirklichkeit des Lebens und seines Schutzes zu werden“.

Bernward Büchner, einer der Herausgeber des Bandes, verweist in seinen beiden Beiträgen mit deutlichen Worten auf den kollektiven Selbstbetrug der staatlich finanzierten Beratungspraxis hin. Für 90 Prozent aller nach Beratung erfolgten Abtreibungen trügen die Krankenkassen die Kosten. Das sei nichts anderes als staatlich subventionierte Tötung.

Veronika Blasel, freie Journalistin mit dem Schwerpunkt Bioethik, und Stefan Rehder, Redaktionsleiter der Zeitschrift „LebensForum“, weisen in ihrem gemeinsam verfassten Beitrag nach, dass Frauen immer häufiger abtreiben. Jedes vierte gezeugte Kind werde abgetrieben. Dabei wiese die gleiche Behörde, die sinkende Abtreibungszahlen melde, darauf hin, dass es tatsächlich in Deutschland immer öfter zu Schwangerschaftsabbrüchen komme. Ja, es deute vieles darauf hin, dass Abtreibungen hierzulande längst als legitimes Mittel der Familienplanung betrachtet werden.

Die beiden letzten Beiträge des Buches von Dieter Ellwanger und Julia Hoffman informieren über praktische Erfahrungen mit dem Schwangerschaftskonfliktgesetz.  Im Anhang werden schließlich das Abtreibungsurteil (inkl. Auszüge der Begründung) des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 und die §§ 218 bis 219a des Strafgesetzbuches wiedergegeben, was die gründliche Lektüre der Beiträge, in denen auf diese Texte verwiesen wird, erheblich erleichtert. Auf fünf Seiten am Ende informiert das Buch über den Bundesverband Lebensrecht und deren 11 Mitgliedsorganisationen.

In diesen Tagen spricht man nicht gern, aber notgedrungen oft, von der dramatischen demoskopischen Entwicklung in Deutschland. Während derzeit ca. drei Erwerbstätige für einen Rentner aufkommen müssen, wird sich absehbar bald das Verhältnis umkehren. Es wäre natürlich zu einfach, für diese Entwicklung allein die Abtreibungspolitik verantwortlich zu machen. Aber zweifellos ist beim Lebensschutz etwas schief gelaufen! Hartmut Steeb, Generalsekretär der Deutschen Evangelischen Allianz und Vater von zehn Kindern, schreibt völlig zurecht über das ausgezeichnete Buch: „Was brauchen wir in unserer Zeit nötiger, als unbequemen Wahrheiten ins Gesicht zu schauen? Wer bereit ist, die hohen Ziele der so genannten Abtreibungsreform der 90er Jahre mit der Wirklichkeit heute zu vergleichen, findet hier die notwendigen Informationen. Dann fehlt nur noch der Mut, das Scheitern dieser „Reform“ zur Kenntnis zu nehmen und gemeinsam zu überlegen, wie denn nun wirklich Lebensschutz für ungeborene Kinder erreicht werden kann.“

Ron Kubsch

 

Bernward Büchner u. Claudia Kaminski (Hg.). Lebensschutz oder kollektiver Selbstbetrug?: 10 Jahre Neuregelung des § 218 (1995–2005), Bonn: Verlag für Kultur und Wissenschaft, 2006. ISBN 3-938116-017-X, 9,80 €.

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